Unter Bären in der kanadischen Wildnis
Viele Male bin ich mit meinen Jungs durch die Regenwälder der Coast Mountains an der Westküste Kanadas gestreift, mit ihnen über glasklare Gebirgsseen gepaddelt, und wir sind dabei immer wieder auf »wilde« Tiere gestoßen, die sich meist schon in der Ferne trollten. Das passierte mir eines Tages auch mit der Mutter meiner Kinder. Sie trollte sich und war auf und davon.
Was könnte sich besser eignen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen als der duftende Waldboden kanadischer Douglasienwälder. Inmitten der Wildnis wollte ich mein inneres Gleichgewicht wiederfinden, spüren, dass ich noch lebe und sei es durch eine Extraportion Adrenalin. Also packte ich meinen Koffer und zog los. Menschen hatten mich enttäuscht, und so suchte ich die Nähe der faszinierendsten Geschöpfe, die entlang der Flüsse und Küsten Kanadas durch die Wälder streifen: Grizzlybären (Ursus Horribilis).
An Bord der »Sunchaser«
Als ich das Hotel in Prince Rupert kurz nach 5 Uhr morgens verließ, schienen Stadt und Wildnis noch in einem tiefen Schlaf zu liegen. Hier und da lugten Positionslichter von Schiffen im Chatham Sound aus den dicht über dem Wasser liegenden Nebelbänken. Das Kreischen der Möwen wechselte sich ab mit den Nebelhörnern heimkehrender Fischerboote. Am Ende des Anlegers wuchtete Dan, Kapitän und Eigner der »Sunchaser«, Proviant auf das Boot. Nach einem knappen »Good Morning« packte ich mit an. Unter Deck empfing mich das strahlende Lächeln von Diane, Dans Lebensgefährtin. Wie sie dastand in ihren Boots, dem wattierten Baumfällerhemd und dem vom Wind zerzausten Haar, bot sie einen Anblick zum Verlieben. So stellt man sich eine Kanadierin am Ende der Welt vor. Der Duft des frisch gebrühten Kaffees machte sie noch unwiderstehlicher. Bald hieß es »Leinen los«, das Boot machte seinem Namen alle Ehre. Kaum waren wir aus dem Schatten der Boundary Mountains, dem Grenzgebirge zwischen den USA und Kanada, heraus in den Chatham Sound eingefahren, spiegelten sich die Sonnenstrahlen auf dem ruhigen Wasser wieder und tauchten die Küste in ein zauberhaftes Licht.
Auf der Fahrt in das Khutzeymateen Grizzly Bear Sanctuary wurden wir begleitet von Grauwalen, Delfinen und Seehunden, die neugierig das Boot umrundeten. Ähnlich verhielt es sich mit den Bären, die unsere Ankunft zur Kenntnis, aber keineswegs zum Anlass zur Flucht nahmen. Wir konnten uns die folgenden Tage völlig frei auf den von ihnen ausgetretenen Pfaden oder durch Schwärme von laichenden Lachsen durch Flüsse bewegen. Angst machte mir nur die Schrotflinte, die Dan über der Schulter trug und mit der er mir vor der Nase rumwedelte, wenn ich hinter ihm ging. Darauf angesprochen, ob er sie zur Verteidigung anwenden würde, zeigte er mir den leeren Lauf: »Ist nur für die Touristen, die sollen sich doch sicher fühlen«. »Und was bin ich?« fragte ich. »Hoffentlich schnell genug!« feixte er und stapfte weiter. Später erklärte er mir, dass er nur ein einziges Mal mit einem Bären aneinandergeraten sei. Und der hätte seinen Unmut über die Begegnung lediglich mit den üblichen Drohgebärden quittiert. »Erst fangen sie an, den Kopf von einer Seite zur anderen zu werfen (stehen bleiben!), dann klappen sie deutlich hörbar Unter- und Oberkiefer aufeinander (Ruhe bewahren!). Wenn das Tier dann immer noch glaubt, sich nicht ausreichend Respekt verschafft zu haben, beginnt es mit den Pranken Dreck durch die Gegend zu schleudern (tapfer bleiben!). In meinem Fall hat der Bär mich einfach umgerannt (liegen bleiben, Arme über den Kopf und beten!). Der Bär zog seines Weges in der Gewissheit, keinen ernsthaften Konkurrenten vor sich zu haben. Außerdem können Bären nur bis drei zählen, wir sind fünf und erscheinen ihm damit wie eine Armee«.
From Sea to Sky
In dem Glauben, nun ausreichend Basiswissen über die Verhaltensweise von Bären zu haben, stand ich einige Wochen später pinkelnd vor einem Abgrund weitab vom Sea-to-Sky-Highway nördlich von Vancouver und ließ den Blick über die steilen Felsabbrüche und Wälder schweifen. Ein kratzendes Geräusch riss mich aus meinem Tagtraum. Zwei Schwarzbärjunge rasten einen Baum hinauf. Gleich darauf raschelte es keine 3 m entfernt im Unterholz. Da hatte ich nun meine Portion Adrenalin. Was hatte ich gelernt?: Niemals zwischen Bärenjunge und das Muttertier geraten. Diese Bärenfamilie allerdings hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes mit heruntergelassenen Hosen erwischt. Ruhig redete ich auf die Bärin ein: »Was für hübsche Babys du doch hast … «. Üblicherweise war es ja genau das, was junge Mütter hören wollen. Ich senkte den Blick, um sie nicht zu provozieren. Bis zur offenen Wagentür waren es nur wenige Meter. Leise trat ich den Rückzug an. Auf den letzten Metern setzte der Fluchtreflex ein, dafür der Verstand aus, und ich hechtete mit einem Sprung in den Wagen. Noch im Flug versuchte ich, mit der einen Hand nach der Kamera und mit der anderen nach der Tür zu greifen. Ergebnis der akrobatischen Einlage: Ich verfehlte den Türgriff, die Kamera rutschte in den Fußraum, und ich landete mit einem schmerzhaften Schlag auf der Mittelkonsole. Nachdem ich mich berappelt hatte, sah ich die Bärenfamilie auf dem Baum sitzen – offensichtlich amüsiert über das ungelenke Gebaren dieses Homo Sapiens.
Ein wenig beschämt trat ich den Heimweg an, um die heikelsten Passagen des Weges noch im Restlicht der Abenddämmerung fahren zu können. Daraus wurde nichts. Nach einem knappen Kilometer lugte am Wegesrand die mächtige Schnauze eines Grizzlys aus dem Weidengestrüpp. Noch bevor ich den Fuß auf der Bremse hatte, nahm Meister Petz Reißaus und raste mit einer affenartigen Geschwindigkeit die steile Steigung der Schotterpiste hinauf. Kurz darauf erklärte sich mir auch das Auftauchen des Bären: Auf der anderen Seite des Weges stand eine Wapiti-Kuh, die schwer atmend auf der Böschung verharrte. Die glänzendbraunen, kugelrunden Augen starrten mich ängstlich an. Sie floh nicht. Der Grund: Kaum sichtbar, im Unterholz stand ihr völlig erschöpftes Kitz. Mein jähes Erscheinen hatte offenbar verhindert, dass es zur Beute eines hungrigen Bären wurde.
Das Versprechen
Ich begegnete noch viele Male Bären. Wegweisend war das Schild »Warning – Bear in Area«. Am Bowron Lake, angelockt vom Duft frischer Frühstückspfannkuchen, spazierte einer in die Küche der Lodge, um kurzerhand von einer hysterisch schreienden Köchin mit der Bratpfanne in die Flucht geschlagen zu werden. Am Yukon, in der Nähe der einstigen Goldgräberstadt Dawson City, erntete ich mit ihnen zusammen Moosbeeren, die den Bären wesentlich besser bekamen als mir. An einem der Abflüsse des Salmon Glaciers bei Hyder leistete ich einem Grizzly einige Tage Gesellschaft bei der Lachsjagd. Ziemlich unvorsichtig, denn Ranger empfehlen einen Sicherheitsabstand von 250 m.
Bei meiner nächsten Reise in die Wildnis Kanadas werde ich mich daran halten, denn inzwischen habe ich die hübscheste und beste Frau der Welt geheiratet, bin stolz auf meine Söhne und freue mich an meiner Patchwork-Familie. Wenn ich jetzt darüber schreibe, fällt mir auf, dass meine Frau die gleiche Geborgenheit ausstrahlt wie damals Diane auf der »Sunchaser«. Ihr Kaffee ist mindestens genauso gut, und damit ich nicht nochmal solche Dummheiten mache, bekomme ich jedes Jahr zu Weihnachten einen Teddy von ihr geschenkt.
Praktische Reisetipps
Anreise
Mit allen großen Fluggesellschaften über Frankfurt/Main, London oder Amsterdam. Flugzeit nach Vancouver 9,5 Std.
Beste Reisezeit
Juni–Sept.
Übernachten
Die schönste Art zu reisen ist mit dem Wohnmobil (www.crd.de). In Vancouver hat man je nach Budget die Wahl zwischen zahlreichen Hotels (www.canadianhotelguide.com) oder preiswerteren Appartements (www.airbnb.com). Ferner warten private und BC-Provincial Park Campgrounds (www.bcparks.com) sowie kuschelige Lodges (www.travel.bc.ca).
Besonderer Tipp
6-tägige Kanutour am Bowron Lake (www.beckerslodge.ca); Sea Kayaking in Tofino (www.tofino-bc.com); Killerwale vor Vancouver Island (www.vancouverisland.travel), Bären, Grauwale und Weißkopfseeadler aus nächster Nähe erleben (www.sunchasercharters.ca).
Individuelle Reiseplanung
www.reisedeals.com bietet Links zu günstigen Angeboten an ausgewählten Orten an der Westküste Kanadas.
Reiselektüre
Dem Roman Ein Ungezähmtes Leben von Mark Spragg gelingt es, den Zwiespalt zwischen Liebe und Respekt vor Bären sehr bewegend zu beschreiben.
Ausgewählte Stationen der Reise
Vancouver; Tofino; Port Hardy; Squamish; Prince Rupert; Stewart; Whitehorse; Dawson City; Bowron Lake