Die mit Tausenden von Nieten besetzte Stahlwand erhob sich wie ein Wolkenkratzer über dem Kopf von Lærke und Thomas Bennet. Das Weiß der Decksauf bauten verschwamm mit dem Nebel, der den Hudson–River hinaufzog. So, als schwebe die Lusitania in einem Wolkenmeer.
Lærke war unbehaglich zumute, wie sie mit Thomas dastand und auf diesen aus Stahl gegossenen Hochmut blickte, mit dem die Industriegesellschaft einfache Menschen wie sie zu verhöhnen schien. In der wogenden Menschenmenge am Pier fühlte sie sich, als würde sie im Sturm der Zeitgeschichte hin und her geworfen. Die einzige Person, die sie schützen konnte, war ausgerechnet der Mensch, den sie in Kürze verraten sollte.
ACHTUNG!
Reisende, die eine Schiffsreise über den Atlantik antreten, werden darauf hingewiesen, dass sich Deutschland und seine Verbündeten mit Grossbritannien und dessen Verbündeten im Krieg befindet. Das Kriegsgebiet umfasst auch die Gewässer um die britischen Inseln. Laut einer offiziellen Mitteilung der kaiserlich-deutschen Regierung laufen Schiffe, die unter der Flagge Grossbritanniens oder einer seiner Verbündeten fahren, Gefahr, in diesen Gewässern angegriffen und zerstört zu werden. Wer auf Schiffen Grossbritanniens oder einer seiner Verbündeten reist, tut dies auf eigenes Risiko.
GEZ. KAISERLICH-DEUTSCHE BOTSCHAFT, WASHINGTON, D.C., APRIL 22nd 1915
Ein Zeitungsjunge brüllte diese Meldung aus der New York Times immer und immer wieder heraus. Mitarbeiter der Cunard Line kamen auf Lærke und Thomas zu, gefolgt von einer Schar sensationslustiger Reporter und Fotografen.
»Lass uns gehen, Thomas!«
Thomas nahm Lærke an die Hand, und sie eilten los zur Gangway für die erste Klasse. Über ihre Köpfe hinweg schwebten massive Holzkisten an den Ladekränen.
»Schau Lærke, in einer von denen ist bestimmt auch meine Laborausrüstung. Wenn wir zurückkehren, habe ich genügend Geld, und wir kaufen uns ein Automobil. Damit fahren wir dann an den Wochenenden zu den schönsten Badeorten der Ostküste.«
Sie folgte den Kisten mit ihren Augen – und erschrak. Es war, als schnüre ihr jemand die Kehle zu. Oben an der Reling stand ihre Kontaktperson und blickte auf sie herab. Lærke zögerte. Am liebsten hätte sie Thomas alles gebeichtet, ihn gegriffen und wäre mit ihm zurück in ihr bescheidenes Heim geflüchtet. Sobald sie auf dem Schiff waren, würde es zu spät sein. Im Grunde genommen war es das bereits. Sie konnte sich ihm jetzt unmöglich noch anvertrauen. Er würde es nicht verstehen.
»Komm, wir holen uns die Schlüssel zu unserer Kabine, du wirst Augen machen«, sagte Thomas. Am Empfang ging alles erstaunlich zügig, der Vorteil eines Erste–Klasse–Tickets. Hinter dem aus schwerem Mahagoniholz gearbeiteten Empfang mit kunstvoll geschmiedeten Messingverzierungen begrüßte sie der Chefstewart in einem tadellos aufgebügelten und gestärkten weißen Jackett.
»Herzlich willkommen an Bord der Lusitania, Mr Bennet. Mrs Bennet. Sie haben einen First Class State Room Deluxe gebucht, Sir?«
»Das ist richtig.«
Lærke merkte ihrem Mann an, dass er sich nicht ganz so sicher fühlte, wie er sich gab. Ihm fehlte die lässige Arroganz der Reichen, die sich täglich auf derart prunkvollem Terrain bewegten, und wie sie es in den Vorzimmern des Bankhauses, in dem sie arbeitete, erlebt hatte. Besser gesagt, ertragen musste.
»Ich habe eine Frage. In dem Zimmer befindet sich doch ein Safe, oder?«
»Ja Sir, wie von Ihnen bestellt. Sollte die Größe nicht ausreichen, können Sie Wertgegenstände gern bei unserem Zahlmeister abgeben.«
Lærke spürte die Blicke des Concierge auf sich. Offenbar fand er nicht, wonach er suchte. Keine kostbaren Colliers oder anderen Schmuck, und auch das Kleid war wie der Anzug ihres Mannes von minderer Qualität. Das Unbehagen in ihr wuchs von Minute zu Minute.
»Was kostet das Zimmer?«, flüsterte sie Thomas zu.
»400 Dollar, und man nennt es Kabine, meine Liebste.«
»400 Dollar? Das ist fast ein Jahreslohn.«
»Nicht mehr lange, meine Liebe. Für wen sollte ich mein Erspartes ausgeben, wenn nicht für meine wunderschöne Frau?«
Lærke fuhr zusammen, als sie den Mann von der Reling neben sich bemerkte. Ein Hüne, der bestimmt zwei Meter maß, hatte wortlos neben den beiden Position bezogen. Thomas’ aufgesetztes Selbstbewusstsein bröckelte, und er fragte mit nervöser Stimme: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Zu Ihren Diensten, Sir. Mein Name ist Alexander. Ich bin Ihr Stewart. Wenn Sie mir den Gepäckschein und die Zimmerschlüssel aushändigen, lasse ich die Koffer in Ihre Kabine bringen. Möchten Sie mir schon einmal Ihre Aktentasche geben, Sir?«
»Nein! Nein, die trage ich selbst …«
Alexander blickte über die Schulter und schnippte zweimal mit den Fingern. Ein Page, kaum älter als vierzehn Jahre, kam herbeigeeilt und nahm den Gepäckschein entgegen.
»Möchten Sie ein Glas Champagner?«, fragte der Stewart.
»Bitte, bedienen Sie sich. Ein Willkommensgruß der
Cunard Line.«
Minuten später schwang die Tür zu ihrer Suite auf.
»Mein Gott, die Kabine ist ja größer als unsere Wohnung.«
»Wo finde ich den Safe, Alexander?«
»Dort drüben am Schreibtisch, Mr Bennet.«
Lærke löste sich vom Arm ihres Mannes und durchquerte das Wohnzimmer mit dem angeschlossenen Essraum, das Schlaf-, das Ankleide– und Badezimmer. Sie ließ die Hand über die Badewanne gleiten und konnte dem Drang nicht widerstehen, den Warmwasserhahn aufzudrehen und die Toilettenspülung zu betätigen. Alles war so elegant, so neu, so …
»Mrs Bennet, Sie tun das Richtige.« Alexander griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft.
»Sie schaffen das! Lassen Sie mich wissen, wenn niemand in Ihrer Nähe ist. Verlangen Sie nach mir persönlich. Sie erhalten dann weitere Instruktionen.«
Lærke konnte seinem Blick nicht standhalten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und warf einen Blick über ihre Schulter zu Thomas. Der beschäftigte sich immer noch mit dem Safe.
»Wie funktioniert das Ding hier?«
»Ich bin sofort bei Ihnen, Sir.« Alexander schwang herum und ging auf Thomas zu.
»Möchten Sie die im Safe deponieren?« Er machte eine Handbewegung in Richtung der Aktenmappe.
Thomas wich einen Schritt zurück. »Danke, das mach ich selbst. Erklären Sie mir einfach, wie ich die Kombination einstelle.«
Nun gib ihm doch einfach die verdammte Tasche, hätte Lærke ihn am liebsten angeschrien. Ihre Hände ballten sich zu einer Faust. Sie presste ihre frisch manikürten Nägel fest in die zarte Haut ihrer Handballen. Es half. Der Schmerz lenkte sie ab.
Thomas bekam von alldem nichts mit. Er drückte Alexander einen Silberdollar in die Hand und wies ihm die Tür.
»Danke, Alexander.«
»Ich danke Ihnen, Sir. Wenn Sie etwas brauchen, Sir, ich stehe jederzeit gern zu Ihrer Verfügung.«
Der mögliche Kriegseintritt der USA und die lauernde Gefahr durch deutsche U–Boote waren überall an Bord das Thema Nummer eins. Natürlich auch bei den Offizieren. Nur der Kapitän wusste, dass ihre Befehle nicht mehr von der Reederei, sondern direkt von der englischen Admiralität kamen.
Kapitän William Thomas Turner schritt auf die Brückennock und ließ seinen Blick über das Vordeck der Lusitania schweifen. Genau genommen war er jetzt Kommandant eines Kriegsschiffes, eines Hilfskreuzers. Er sah auf den Funkspruch in seiner Hand. »Mr Bestic, berechnen Sie den Kurs zum Fastnet-Felsen an der Südwestecke Irlands. Dort erreichen wir Kriegsgewässer und werden von dem Kreuzer Juno nach Liverpool eskortiert.«
»Was sagen Sie zu der Anzeige in der New York Times, Sir? Meinen Sie, dass sie als eine Warnung für unser Schiff zu verstehen ist?«
»Die Deutschen rasseln nur mit den Säbeln. Selbst wenn sie es auf uns abgesehen haben, sind wir viel zu schnell für die. Leinen los, Mr Jones. Schicken Sie sie auf See.«
IRISCHE SEE
7. MAI 1915
Lærke hatte bereits beim Lunch davon gehört. Der Schiffsdetektiv William Pierpont nahm kurz nach der Abfahrt drei blinde Passagiere fest. Man munkelte, sie seien deutsche Spione. Da sie sich weigerten, nähere Auskünfte zu erteilen, sperrte man sie in eine Kabine in den unteren Decks. Das sprach sich herum, und die Gefahr schien nunmehr nicht nur in der dunklen See zu lauern, sondern auch unter den Passagieren an Bord.
Angst und Verunsicherung wuchsen. Besonders bei Lærke selbst. Sie war Alexander zwar einige Male begegnet, doch der schien sie überhaupt nicht zu sehen, geschweige denn mit ihr reden zu wollen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann und wie man sie und die Dokumente von Bord schaffen würde.
Thomas, der sonst nicht von Lærkes Seite wich, betrat den Smoking Room und setzte sich an einen freien Tisch.
»Mr Bennet, Sir. Darf ich Ihnen etwas bringen?«
»Alexander, schön Sie zu sehen. Ja, ich möchte einen
Scotch.«
»Gern. Mit Soda?«
»Ja bitte. Noch eins, meine Gattin fühlt sich nicht wohl. Könnten Sie ihr bitte einen Tee und ein wenig Zwieback aufs Zimmer bringen? Danke.«
»Selbstverständlich, Sir. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«
»Nein, nur eine kleine Magenverstimmung.«
»Ich werde mich persönlich darum kümmern, Sir.« Alexander mixte Thomas einen Uam Var mit Soda und Eis.
Nach einem Umweg über die Küche stand er nun mit dem Teewagen vor der Kabinentür der Bennets. Er klopfte zweimal an die Tür. »Ihr Tee, Madam!«
Unter Tausenden würde Lærke diesen Bariton mit dem näselnden britischen Akzent wiedererkennen. Sie warf sich einen Morgenmantel über und öffnete die Tür einen Spalt. Alexander schob sich hindurch.
»Geht es Ihnen gut, Mrs Bennet?«
»Ob es mir gut geht? Ich warte seit Tagen auf eine Nachricht von Ihnen.«
»Sie haben bestimmt von der Festnahme der drei blinden
Passagiere gehört.«
»Sind das auch deutsche Spione?«
»Ich weiß es nicht. Wir wurden nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass sie an Bord sind. Sie verstehen, dass ich deswegen umso vorsichtiger sein musste.«
»Aber …«
Alexander legte ihr den Zeigefinger auf den Mund.
»Hören Sie mir jetzt genau zu. Sobald wir in wenigen Stunden die Irische See erreicht haben, wird es eine Explosion an Bord geben. Wir werden die Verwirrung nutzen und Sie von Bord bringen.«
»Eine Explosion? Werden Menschen dabei getötet?«
»Sorgen Sie sich nicht. Keinem wird etwas geschehen. Wenn Sie die Detonation hören, ziehen Sie diese Sachen hier an.« Alexander griff unter den Teewagen und holte ein Paket hervor.
»Aber mein Mann …«
»Ich habe ihm etwas in seinen Drink gemischt. Ich werde dafür sorgen, dass man ihn ins Lazarett bringt und er vor unserer Ankunft in Liverpool nicht wieder herauskommt.«
»Was …«
»Keine Sorge. Ihm wird nur fürchterlich schlecht sein, und die Nierenschale wird für die nächsten zwölf Stunden zu seinem besten Freund.«
»Ich werde Thomas nicht wiedersehen?«
»Nein! Nicht hier an Bord. Wollen Sie das denn überhaupt, ich dachte …«
»Ich weiß es doch selbst nicht. Er war so gut zu mir.«
»Wir dürfen jetzt keine Fehler machen. Sobald wir in Deutschland sind, werden wir herausfinden, wo er ist. Dann können Sie zu ihm.«
»Und was sage ich ihm dann?«
»Erzählen Sie ihm, dass Sie auf dem Weg ins Lazarett durch die Explosion von Bord geschleudert und von einem dänischen Fischkutter gerettet wurden. Es darf jetzt nichts mehr schiefgehen. Sie bleiben so lange in Ihrer Kabine, bis ich Sie hier abhole. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte. Ihr war kalt. »Aber wie erkläre ich das gestohlene Paket, wenn ich Thomas wiedersehe?«
»Geben Sie mir die Schuld. Sagen Sie, ich hätte es entwendet. Ich bin der Einzige, der wusste, was sich in dem Safe befand, und der Ihrem Mann zu Beginn der Reise gezeigt hat, wie man die Kombination einstellt.«
»Das soll er mir glauben?«
»Er wird keinen Verdacht schöpfen. Ich habe zur Ablenkung noch einige andere Tresore geplündert. Mich wird er nie wieder sehen. Ich bleibe in Deutschland, wenn alles vorüber ist.«
Lærkes Atem wurde ruhiger. »Und das viele Geld?«
»Ganz einfach: Sie haben eine Erbschaft in Ihrer Heimat
Dänemark gemacht. Damit wollten Sie ihn überraschen.« Hätte sie nur früher mit Alexander sprechen können. All die Gedanken, Fragen und Ängste, die sie in den letzten Tagen quälten, lösten sich mit einem Mal in Luft auf. Nach einem kurzen Moment der Überlegung wurde sie nahezu euphorisch und fasste neuen Mut.
»Gut, so kann es funktionieren.«